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Definition
Neurodivergenz beschreibt die Abweichung der neurologischen Entwicklung und Funktion von einer gesellschaftlich anerkannten „Norm“. Der Begriff soll dabei hervorheben, daß es eine große Bandbreite an Ausprägungen komplexer neurologischer Funktionen unter den Menschen gibt. Es gibt daher wahrscheinlich kaum eine hundertprozentige „Neurokongruenz“ bei zwei verschiedenen Menschen, so daß die Divergenz zunächst nur die unterschiedlichen Verhaltensweisen von Menschen aufgrund ihrer genetisch so oder so ausgeprägten neurologischen Funktionen beschreibt.
Einen Krankheitswert erfährt eine solche Ausprägung nur, wenn die dadurch bedingten Verhaltensweisen oder Symptome negativ auf das Sozial- oder Arbeitsleben des betroffen Menschen einwirken.
Hier macht es Sinn näher hinzuschauen, welche neurologischen und biochemischen Mechanismen von dem abweichen, was wir von symptomfreien Menschen wissen.
Es ergibt sich eine Gradwanderung zwischen Stigmatisierung und dringend gebotener Hilfe und Therapie. Die Ausweitung der Begrifflichkeiten und der Wegfall starrer Bilder von Störungen bzw. Knock-out-Kriterien in der Diagnosestellung sind ein Schritt in die richtige Richtung, um den Kranken zu helfen und die Gesunden nicht krank zu diagnostizieren.
Neurodivergente Störungen
Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung (ADHS)
- verzögerte Reifung des präfrontalen Kortex
- verminderte Dopaminkonzentrationen im präfrontalen Kortex
- verminderte Dichte an DAT1-Dopaminrezeptoren
Der präfrontale Kortex steuert Exekutivfunktionen wie Planung, Konzentration, Entscheidungsfindung und Impulskontrolle. Seine verminderte Aktivität führt zu Störungen bei der
→ Aufrechterhaltung der Konzentration
→ Impulskontrolle
→ Motivation v.a. für monotone o. nicht direkt belohnte Aufgaben
Autismus-Spektrum-Störung (ASS)
Anhaltende Beeinträchtigung in der sozialen Kommunikation u. Interaktion, eingeschränkte u. repetitive Verhaltensmuster, sensorische Über-/Unterempfindlichkeit in unterschiedlichen Ausprägungen. Eine Einteilung in spezifische Subtypen (wie z.B. Asperger-Syndrom) erfolgt im ICD-11 nicht mehr.
Bisher bekannte Pathomechanismen:
Dysregulation des dopaminergen Systems v.a.
- in Basalganglien → gestörte Verarbeitung von Routinen, repetitive Verhaltensweisen; Fokussierung auf sehr spezielle Interessen
- im Belohnungssystem → Schwierigkeiten, soziale Reize als Belohnung zu empfinden
Tourette-Syndrom
in unterschiedlicher Frequenz wiederkehrende unwillkürliche motorische und vokale Tics.
Ursächlich sind am ehesten Dysregulationen im dopaminergen System der Basalganglien.
Dyslexie / Dyskalkulie
Dyslexie: Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben lernen durch veränderte Aktivität des linken temporoparietalen Kortex (phonologische Verarbeitung von Sprache).
Dyskalkulie: Schwierigkeiten beim Verstehen numerischer Zusammenhänge durch verminderte Aktivierung im intraparietalen Sulcus.
Hochsensibilität
- Überwältigung durch Umgebungsreize bei erhöhter Aktivität in sensorischen Verarbeitungszentren
- Intensives emotionales Erleben und stark emotionale Reaktionen durch stark erhöhte Aktivität im linbischen System (v.a. in den Amygdala)
Synästhesie
Ein sensorischer Reiz ruft zusätzliche Sinneswahrnehmungen hervor. Zugrunde liegt eine besondere neuronale Konnektivität zwischen sensorischen Hirnarealen.
Häufigkeit: ca. 4,4% der Bevölkerung
Hochbegabung
- erhöhte neuronale Effizienz im präfrontalen Kortex
- verstärkte Konnektivität zwischen den Hemisphären
- ausgeprägte neuronale Aktivität im default mode network, DMN
führen zu
- schnellem Lernen
- hoher Problemlösungsfähigkeit
- hoher kognitiver Flexibilität
- ggf. Diskrepanz zwischen intellektueller Fähigkeit und emotionaler Reife
Häufigkeit: ca. 2% der Bevölkerung
Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung (AVWS)
- Störung der Verarbeitung auditiver Reize im primären auditiven Kortex und in der temporoparietalen Region → Schwierigkeiten gesprochene Sprache in geräuschvoller Umgebung zu verstehen oder ähnliche Laute zu unterscheiden
- gestörte Funktion des Corpus callosum → erschwerte Integration auditorischer Information, erschwertes Verstehen schneller und komplexer auditiver Information
Prader-Willi-Syndrom (PWS)
Eine genetische Anomalie auf Chromosom 15 führt zu Störungen im Hypothalamus Es resultieren ein gesteigerter Appetit bei fehlendem Sättigungsgefühl (→ Fettleibigkeit), Lernschwierigkeiten, Zwanghaftigkeit und Wutausbrüche.
Behandlungsbausteine:
- strenge Diätkontrolle
- Verhaltenstherapie zur Impuls- und Emotionskontrolle
- ggf. medikamentöse Therapie zur Behandlung von Hormon- und Wachstumsstörungen

Quellenangaben
Nicola Pape: Neurodivergenz verstehen – Das Praxisbuch für Therapie & Beratung.


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